Krieg in der Ukraine: Retraumatisiert viele alte Menschen


09.03.2022 - Der militärische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist ein vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gewollter und geführter Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Die Weltgemeinschaft hat die Invasion und die Kampfhandlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine mit historisch großer Mehrheit verurteilt. Die entsprechende Resolution, in der Moskau zugleich zum Ende der Aggression aufgefordert wurde, ist am 2. März 2022 in der UN-Vollversammlung verabschiedet worden.

Verstörende Bilder
Seit Russland diesen Krieg ohne Rücksicht auf zivile Opfer führt, sprechen die Vereinten Nationen von der am schnellsten wachsenden Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind derzeit bereits 1,5 Millionen Menschen – vorwiegend Frauen und Kinder – aus der Ukraine in andere Länder geflüchtet. Hinzu kommt die kaum zu schätzende Zahl jener Menschen, die sich innerhalb der Ukraine auf der Flucht befinden.

Die Bilder von Flüchtenden, von in U-Bahn-Schächten Schutz suchenden Familien, von Bomben, die Städte zerstören und auch auf Wohnhäuser, Schulen, Kliniken zielen, von angstvollen Kindern, weinenden Frauen und verzweifelten alten Menschen – alle diese Bilder und Nachrichten verstören uns. Zugleich wächst im Westen und auch in Deutschland die Angst, das dieser militärische Konflikt auf europäischem Territorium kaum mehr einzudämmen ist. Und Putin hat bereits ein neues Bedrohungsszenario aufgebaut: Er versetzte seine sogenannten "Abschreckungskräfte", die auch Atomwaffen umfassen, in Alarmbereitschaft. Auch das wurde in der UN-Resolution scharf verurteilt.

Umgreifendes Entsetzen
Großes Entsetzen über die unfassbaren Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts hat auch die Mitglieder des DVLAB erfasst. Hierzu gibt es im Verband keine zwei Meinungen.
Als Leitungskräfte sind sie jedoch immer noch maximal gefordert, mit den Folgen der Corona-Pandemie, den erneut steigenden Infektionszahlen, dem Schutz der von ihnen betreuten vulnerablen Gruppen und der einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Gesundheitswesen umzugehen, die nun ansteht.

Nicht genug damit – nun müssen die Leitungskräfte in ihren stationären und ambulanten Einrichtungen und Diensten auch noch in anderer Weise für die ihnen anvertrauten Personen sorgen: Sie müssen mit Menschen umgehen, die als Kind, Jugendliche oder Erwachsene im Zweiten Weltkrieg selbst Bombenangriffe, Todesangst, Flucht, Verfolgung, Vertreibung, schwere Verluste und das Auseinanderreißen der Familie erlitten haben und davon vielfach traumatisiert sind.

Aufreißende Seelenwunden
Aus vielen Einrichtungen in Deutschland wird derzeit berichtet, dass die Bilder und Nachrichten über den Krieg in der Ukraine bei älteren und alten Menschen wieder alte Seelenwunden aufreißen und lange überwunden geglaubte Gefühle wachrufen. Plötzliche Angst beispielsweise bei Straßenbau-Lärm oder eine neue (alte) Furcht vor Dunkelheit sind nur Beispiele für mögliche Reaktionen, die auf die Reaktivierung eines Kriegstraumas hinweisen können. Auch überraschend auftretende Depressionen und Aggressionen, psychosomatische Störungen, plötzliche Anpassungsstörungen (z.B. Phobien, Panikattacken), Hyperaktivität, Lethargie oder ungewohnt sparsame, funktionierende, hortende, altruistische Verhaltensweisen können neben vielen anderen Symptomen Merkmale einer Retraumatisierung sein.

Kriegserlebnisse graben sich tief in die menschliche Seele ein und begleiten die Betroffenen bewusst oder unbewusst zumeist bis ans Ende ihrer Tage. Nicht alle, aber doch viele bleiben davon lebenslänglich traumatisiert.

Unbewältigte Ereignisse
Unter einem Trauma ist laut gängiger Definitionen ein überwältigendes Ereignis zu verstehen, bei dem ein Mensch von intensiver Angst oder Schrecken befallen wird, große Hilflosigkeit erlebt und auch Horrorgefühle erleiden kann. Beispiele für solche Ereignisse sind Unfälle, Vergewaltigungen, Überfälle, Kriegsgeschehen, aber auch Kindesmisshandlung oder sexuelle Gewalt gegen Kinder. In solchen Situationen sind die körperliche und/oder seelische Gesundheit und Unversehrtheit einer direkt oder indirekt betroffenen Person bedroht.

Die Schwere, Dauer und Art der Ereignisse, die erfahrene Hilfe währenddessen und im Anschluss daran sowie die nicht steuerbare individuelle (psychische) Widerstandskraft entscheiden darüber mit, ob das Trauma "bewältigt" (integriert) werden kann oder ob sich belastende Traumafolgestörungen chronifizieren, also dauerhaft bestehen bleiben. In dem Fall spricht man von posttraumatischen Belastungsstörungen.

Umgang mit (re)traumatisierten Bewohner*innen
Der Umgang mit (re)traumatisierten, hochbelasteten Menschen sollte daher einfühlsam, verständnisvoll und geduldig erfolgen. Aufmerksamkeit, verständnisvolles Zuhören, verlässliche soziale Kontakte (etwa regelmäßige Besuche von Angehörigen) und Zuwendung tun ihnen ebenso gut wie so viel Normalität wie möglich im Alltag, damit die (noch) sichere Gegenwart spürbar bleibt.

Zugleich sollten Pflegende vermeiden, das traumatische Ereignis (hier: die Themen Zweiter Weltkrieg und Ukraine-Krieg) aktiv gegenüber der traumatisierten Person anzusprechen. Dies könnte belastende Gefühle nämlich nur noch stärker "antriggern". Die Frage, was der betroffene Mensch im Moment gerade braucht, damit es ihm besser geht (z.B. ein Spaziergang, eine Ablenkung oder das bewusste Ausschalten der Fernsehnachrichten), ist eine gute Gesprächsalternative. Sie lenkt die Gedanken in eine andere Richtung und aktiviert den konstruktiven Selbstschutz.

Bei (re)traumatisierten Betroffenen ist zu beobachten, dass sie sich einerseits zwar immer wieder mit dem schlimmen Ereignis auseinanderzusetzen möchten (darüber reden) – andererseits aber oft alles (auch jedes Gespräch) vermeiden wollen, das sie an das Trauma erinnern könnte. Hier also der ständige (aber meist erfolglose) Verarbeitungsversuch, dort der starke Schutz vor Überwältigungsgefühlen. Alle diese Reaktionen dienen dem Überleben, sind normale Reaktionen auf eine außergewöhnlich erlebte Situation und bedürfen des Verstehens.

Das Foto (Matti/pexels.com) zeigt, wie Menschen am 22. Februar 2022 in Berlin gegen den Krieg protestieren.

zurück


DVLAB e.V.
Bahnhofsallee 16 | D-31134 Hildesheim
Telefon: 05121-2892872 | Telefax: 05121-2892879
E-Mail: info@dvlab.de
Impressum | Datenschutz
©
Admin
- 386748 -